Deutsch-dänisches Projekt eröffnet neue Blickwinkel – ein Nebeneffekt der Entwicklung grenzübergreifender Fortbildungskurse in der onkologischen Pflege.
„In der Pandemie kommt der Rolle des Pflegeberufs sowie dessen öffentlicher Wahrnehmung und Wertschätzung in der Gesellschaft eine große Bedeutung zu. Wir reden ja heute in Deutschland von einem »Pflexit«, also davon, dass immer weniger Menschen einen Pflegeberuf ergreifen oder diesen verlassen wollen, da sie sich in diesem Beruf zu wenig wertgeschätzt fühlen. Vielleicht verhält sich das in Dänemark durch eine höhere Wertschätzung der Berufe von Pflegefachpersonen anders?“
Diese Frage stellt Prof. Dr. Katrin Balzer, Leiterin der Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität zu Lübeck. Die Sektion arbeitet gemeinsam mit der Fachhochschule Absalon der dänischen Region Seeland sowie weiteren Partnerinstitutionen an einem grenzübergreifenden Projekt zur Fortbildung von Pflegefachpersonen in der patientenzentrierte Pflege von Menschen mit onkologischen Erkrankungen.
COVID-19 als Katalysator für die öffentliche Wahrnehmung der Pflegefachpersonen
Die Versorgung von Pflegebedürftigen ist eine fordernde und kräftezehrende Arbeit, die das Personal oftmals an die Grenze der Belastungsfähigkeit bringt. Das ist besonders heute, in Zeiten der weltweiten Pandemie, spürbar. Mitte März warnte der Weltbund der Pflegefachpersonen (ICN – International Council of Nurses), vor einem internationalen Massenexodus seiner Kolleginnen und Kollegen. In Deutschland berichtete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ kurz darauf: „Viele Pflegekräfte wollen und können einfach nicht mehr. Tausende haben den Beruf verlassen. Der »Pflexit« wird zum Problem an deutschen Kliniken.“
Laut ICN beschleunigt COVID-19 eine Entwicklung, die schon lange vorausgesagt wurde: Hohe Arbeitsbelastung, ungenügende Ressourcen, Burnout und Stress kennzeichnen den Arbeitsalltag in der Krankenpflege und tragen zum Exodus des Personals bei. Der COVID-19-Effekt verschlimmert einen strukturellen Engpass: Bereits vor der Pandemie gab es weltweit sechs Millionen Pflegefachpersonen zu wenig, und bis zum Jahr 2030 werden weitere vier Millionen altersbedingt ausscheiden. Unter anderem auch deshalb fordert der ICN bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sowie flexible Arbeitsregelungen.
Deutsch-dänische Unterschiede
„Etwas sehr Bedeutendes und teils auch Überraschendes, was uns im Rahmen des Projektes aufgefallen war, sind die unterschiedlichen Auffassungen von der Rolle und dem Berufsbild des Pflegepersonals und damit verbunden von der Aufgabenverteilung“, sagt Katrin Balzer und fügt hinzu: „Das ist interessant. Ob diese Unterschiede einen Einfluss auf die Versorgungsqualität haben, sollte man untersuchen.“
Auch die dänischen Partner im Projekt sahen hier deutliche Unterschiede. Dazu Christina Louise Lindhardt, Ph.d., Assistenzprofessorin an der Fachhochschule Absalon und Leiterin dieses Arbeitspaketes im Projekt Changing Cancer Care: „Es gibt große Unterschiede hinsichtlich der Aufgaben und Kompetenzen der Pflegefachpersonen. Die pflegerische Ausbildung in den skandinavischen Ländern sowie in England und Irland ist anders aufgebaut. Sie erwerben mehr Kompetenzen, und übernehmen mehr medizinisch-fachliche sowie Führungsaufgaben. Dadurch ergibt sich auch eine andere Hierarchie zwischen Ärzt*innen und Pflegefachpersonen.“
In Dänemark ist die pflegerische Ausbildung ein Bachelor-Studiengang an einer Fachhochschule, in Deutschland zumeist eine Ausbildung an einer Berufsfachschule. Erst seit 2020 lassen die berufsgesetzlichen Vorgaben daneben auch eine akademische Ausbildung im Pflegeberuf in Deutschland zu, die Anzahl der akademischen Ausbildungsplätze (ca. 600 deutschlandweit) liegt aber weit unter der für die berufliche Ausbildung (über 70.000). In der Praxis, in der direkten Patientenversorgung, verfügen in Deutschland bisher weniger als 5 % der Pflegefachpersonen über einen akademischen Abschluss.
Diese verschiedenen Ausbildungsformen in Dänemark und Deutschland wirken sich auf die Selbstwahrnehmung, die Rolle und die Pflichten des Pflegepersonals aus. Hinzu kommt ein unterschiedlicher Umgang mit Fortbildungen. Dazu erläutert Katrin Balzer: „Mein Eindruck ist, dass Fortbildungen in Dänemark eine sehr wichtige Rolle für Pflegefachpersonen spielen, auch im Hinblick auf die weitere Karriere, Verantwortungsbereiche und eventuelle Gehaltserhöhungen.“ All das führe dazu, dass Pflegefachpersonen in Dänemark sich ihrer Kompetenzen sehr bewusst sind und ihre berufliche Entwicklung aktiv gestalten, so Balzer. In Deutschland gibt es natürlich auch fachliche Weiterbildungen, aber in der Praxis ändert sich damit wenig für den Arbeits- und Verantwortungsbereich des Pflegepersonals und infolgedessen ebenso wenig für ihr Gehalt.
Frederike Lüth, Forschungsassistentin am Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie ergänzt: „Pflegefachpersonen haben wenig »Stimme« im aktuellen Gesundheitssystem, und sie fühlen sich so manchmal nicht gehört. Zusätzlich gestaltet sich die interprofessionelle Kommunikation nicht immer auf Augenhöhe zwischen den Professionen“. Besserung könnte hier möglich werden, wenn man Ärzt*innen und Pflegefachpersonen weniger als ein hierarchisches System auffasst, sondern mehr als ein gemeinsames Team zusammen mit den anderen Gesundheitsfachberufen. Dies sei auch essenziell für die Umsetzung einer patientenzentrierten Behandlung und Pflege, d.h. einer Versorgung, die von den Bedürfnissen, Präferenzen und Problemen der Patientinnen und Patienten ausgeht und Betroffenen und ihre Bezugspersonen sowie alle beteiligten Berufsgruppen als Partner im Versorgungsprozess ansieht.
Unterschiede zu reflektieren ist Teil des Interreg-Projektes
Ziel des Projektes Changing Cancer Care ist es, durch grenzüberschreitende wissenschaftliche und klinische Zusammenarbeit zwischen deutschen und dänischen Partnern die Behandlung und Pflege von Menschen mit Krebserkrankungen im Sinne einer solchen patientenzentrierten Versorgung zu verbessern. Ein zentrales Element bilden hierbei die Kompetenzen von Pflegefachpersonen, weshalb die Entwicklung eines Fortbildungsangebotes für patientenzentrierte onkologische Pflege Teil des Projektes ist. Dazu werden Kurse in beiden Ländern durchgeführt, basierend auf einem gemeinsam forschungsgestützt entwickelten Curriculum. Im Herbst 2020 fand ein Kurs an der Fachhochschule Absalon im dänischen Roskilde statt und wurde von allen neun Teilnehmer*innen erfolgreich abgeschlossen. Ein Kurs in Deutschland mit dem Titel „Neue Perspektiven für die onkologische Pflege“ wird über sechs Tage verteilt im September und Oktober 2021 im Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität zu Lübeck durchgeführt. Dieser Kurs wird als eine Mischform von digitalem und Vor-Ort-Lernen angeboten, und der letzte Kurstag wird dann im Fokus des deutsch-dänischen Austausches stehen.
Die Ergebnisse und Erfahrungen aus der Entwicklung und Evaluation des pflegerischen Fortbildungscurriculums im Rahmen des Interreg-Projektes Changing Cancer Care machen offenbar, wie wichtig es ist, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wahrnehmung des Pflegeberufs in Deutschland und Dänemark zu erfassen und reflektieren. In der Zusammenarbeit der dänischen und deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Fachpersonen ergaben sich hier gegenseitige Einblicke in die jeweils anderen Arbeitsbedingungen diesseits und jenseits der Grenze. Aufmerksamkeit für Unterschiede zu wecken, die unterschiedlichen Systeme und Strukturen der Arbeitsorganisation zu betrachten und voneinander für die beste Patientenversorgung zu lernen, dies ist ein wichtiger Nebeneffekt der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. Vielleicht geben diese Einblicke Anlass zu weiteren Untersuchungen – und eventuell sogar zu Veränderungen. Dazu Christina Lindhardt: „Wir finden es sehr interessant, im Rahmen unseres Projektes auch die kulturellen Unterschiede zwischen den Ländern zu beleuchten.“